Was ist Deine Erwartung, wenn Du zur OMR gehst? Fachwissen, Party, Netzwerk, Messe, Sales? Liest man die Posts auf LinkedIn, kann man das Gefühl bekommen, dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden; Kritik auf allen Kanälen.
Die eigene Erwartung scheint die Crux zu sein; der Punkt, an die Geister sich scheiden. Die OMR hat da ein kleines Problem. Sie ist so sehr gewachsen, dass alles und jeder in und um das Marketing herum in Hamburg ist.
Da sind die gestandenen Media Executives, die der großen Zeit des TV hinterhertrauern.
Die Mittdreißiger-Onlinemarketer der alten Schule (witziger Begriff in dem jungen Kontext), die meist aus dem SEO/SEA/Affiliate-Game entwachsen sind.
Dann ist da der Nachwuchs. Jung, immer mehr weiblich und erstaunlich oft in farbigen Hosenanzügen gekleidet.
Die Tech-Menschen, die als Aussteller irgendein Tool promoten wollen.
Und dann ist da das ganze Volk dazwischen. Mindset, Herangehensweisen und vor allem Erwartungen sind extrem divers. Die einen wollen verkaufen, die andere Kontakte, die nächsten Fortbildung. Von "Das ist ja nur Party hier" bis "Das ist zu wenig Party hier" hab ich dieses Jahr alles gehört. Genauso "Die Talks sind sooo toll!" und "Also lernen kann ich hier nichts".
Alle unter einen Hut zu kriegen, das wird nicht gehen. Das kann nicht gehen.
Wenn es also keinen gemeinsamen Nenner gibt, kann ich genauso gut meinen Nenner berücksichtigen. Hier also meine subjektive Sicht auf die Dinge:
Vorweg: Ich fand die OMR23 echt gut. Viel besser als im Vorjahr, was an einigen entscheidenen Verbesserungen liegt. Vor allem im Bereich Orga hat das Team eine oder zwei Schüppen auf das ohnehin schon hohe Niveau draufgelegt.
Die Ticketpreise spielen meiner Ansicht nach eine große Rolle. 2022 gab es noch das gewohnte 50-Euro-Ticket und das hat viele Menschen auf die OMR gelockt, die für die Konzerte und die Influencer da waren. Das ist an und für sich nicht schlimm, aber diese Gruppe hat sich offensichtlich immer dieselben Speaker und Talks ausgesucht und so alles überfüllt und verstopft.
Durch den Wegfall der Studis hat sich so viel entzerrt. Wenn ein Influencer auf einer Stage saß, dann hat das Menschen angezogen, aber nicht in dem Maße wie letztes Jahr. Dazu kommen die angesprochenen Änderungen wie die Akkreditierung. Da sind im Team bei der OMR glasklar die Learnings entstanden, nach denen viele Besucher gesucht haben. Beeindruckend.
Ist dadurch alles super? Nein, natürlich nicht. Es gibt immer noch genug zu meckern, wenn man möchte. Die Konzerte finden in der Vodafone-Halle statt, die vorher geräumt wird und in die dann 7.000 Menschen passen, also ein Zehntel der Anwesenden.
Kurz nach Rausschmiss aus der Halle sammeln sich also die ersten vor den verschlossenen Türen, um die besten Plätze zu ergattern. Denn sobald die 7.000 Menschen in der Halle sind, erscheint auf dem großen Screen draußen das gefürchtete "Hall is full". Und dann heißt es warten. Und das ist irgendwie unbefriedigend. Nicht, dass ich eine Lösung hätte, die Kapazität der Halle ist nicht zu ändern.
Aber man könnte sich Mühe geben, die Crowd beim Warten bei Laune zu halten. Eine mobiler DJ auf dem Lastenrad hätte für die Party vor der Party gesorgt. Abgesehen von einem tollen, aber verloren wirkenden Gin-Bike gab es für die Wartenden nichts zu trinken, wenn sie nicht ihren Platz in der Masse aufgeben wollten – das muss auch nicht sein.
Die OMR 2023 war voll, aber nicht zu voll, so wie letztes Jahr. Die Menschenmassen fliessen durch die Gänge und Wartezeiten sind minimal. Auf der Seite ist also alles im Lot.
Für mich persönlich ist der Content für eine OMR sehr wichtig. Ich will lernen und interessante Dinge aufschnappen. Meinen Horizont erweitern und Perspektiven sehen, die ich nicht schon vorher kannte. Im Idealfall habe ich vor der OMR zu einer bestimmten Sache eine Meinung und merke während des Events, dass ich komplett auf dem falschen Dampfer war oder einfach nicht weit genug gedacht habe.
Philipp "Pip" Klöckner ist so einer, der das im Doppelgänger-Podcast regelmässig macht. Er dreht das Rad einfach mal eine Runde weiter, denkt neue Kontexte dazu und voilá: Wir haben einen besonderen Inhalt.
Auf der OMR war Pip auf diversen Bühnen zu sehen und zu hören, unter anderem auf der gigantischen Conference-Stage als Keynote-Speaker. Er hat das omnipräsente Thema AI beleuchtet und darüber gesprochen, wie wir zu Superhumans werden (können). Er hat dabei seine volkswirtschaftliche Brille aufgesetzt, über Produktivitätszuwächse geesprochen und sich weit in die Zukunft gelehnt.
Das ist es, was diesen Inhalt von den vielen, vielen, vielen, vielen AI-Talks und Masterclasses unterscheidet.
AI ist auf der OMR überall. Was letztes Jahr Metaverse und NFTs waren, das ist dieses Jahr AI. Aber eben an den meisten Stellen als Zusatz oder Anhängsel. Die ChatGPT-Integration in einen Editor ist nett, aber kein großer Wurf. Und so folgt alles dem bekannten Muster: "Wie [BRAND] seine [KPI] steigerte und mit [BUZZWORD] und AI total großen Erfolg hatte". Nominell spannend, in der Praxis entpuppt sich leider der AI-Anteil als minimal und der ganze Talk als schlecht bemäntelter Salespitch.
Und das ist kontraproduktiv. Für die OMR, für die Konsumenten und für die Speaker und Sponsoren. Das ist kein neues Phänomen, das war auch in den letzten Jahren präsent. Ich wünsche mir von der OMR da mehr Kontrolle über die Inhalte und mehr Fokus auf Wert, denn davon würden alle profitieren.
Ein Highlight tut sich immer dann auf, wenn CEOs und Vorstände auf die Bühnen kommen und offen über das eigene Unternehmen sprechen. OBI-Chef Sebastian Gundel beispielsweise erzählt von der Transformation der Baumarkt-Kette.
Weg vom rein stationären Handel, hin zum Multichannel-Unternehmen. Und das lohnt sich, das belegt Grundel mit Zahlen; ein reiner Online-Kunde macht 200 Euro Umsatz, ein rein stationärer Kunde 500 Euro und ein Multichannel-Kunde 1.000 Euro. Das macht Multichannel sehr attraktiv.
OBI ist von einem Ort mit Hochregalen zum Enabler für private Bauprojekte geworden, 50 Kontaktpunkte hat ein Kunde pro Jahr im Schnitt – und die nutzt OBI für ein ganz neues Geschäftsfeld: Retail Media.
Mit der OBI-App im Zentrum der digitalen Sphäre, der Webseite, Newslettern und natürlich den Touchpoints in den Filialen hat OBI einen exklusiven Zugang zur Zielgruppe, den OBI nun anderen öffnet. Erste Kampagnen für Produktlaunches für BOSCH können mit tollen Zahlen aufwarten – OBI wird zum Medienhaus.
Wie cool ist es, wenn ein CEO so offen die eigenen Learnings präsentiert? Na klar, OBI will die Werber auf die Plattform holen. Dennoch entsteht hier Wert für die Zuschauer, der Perspektivwechsel gelingt. Das passiert immer wieder auf verschiedenen Stages.
Auch Ralf Reichert, Chairman der ESL FACEIT Group, und damit dem größten Player auf dem weltweiten eSport-Marktes, zeigt sich offenherzig über Zahlen und Trends der Szene. Was ist ein eSport-Team wert? Wie hat sich die Bewertung verändert? Wo fährt der Zug hin?
Wie es hands-on gehen kann, zeigt "Head of Tools" Jens Polomski vor picke-packe-vollem Zuschauerraum. Er spricht – wie könnte es anders sein – über AI. Aber er baut in den 20 Minuten seiner Präsentation eine Kaffee-Brand mit dem Namen "EnergizeMe"; komplett mit AI-Tools.
Von Marktforschung und Nischenfindung über Brandstory hin zu Creatives, Webseiten-Bau, Ads, Performance Marketing und Video-Creation – alle EInzelschritte übernimmt eine AI. Das ist spannend, das ist eine coole Story und die Ergebnisse sprechen für sich. Ich glaube, Jens könnte gut den nicht-existenten Kaffee verkaufen können.
Das ist ein starker Kontrapunkt zu inhaltsleerem Blödsinn bei Kai Pflaume auf der Conference-Stage mit Parfüm-Inluencer Jeremy Fragrance oder Vokuhila-TV-Heini Geissen. Diese Schein-Interviews sind nur als Selbstzweck für die Promis und die OMR da. Kaum jemand will diese Leute sehen, aber sie sind ein mächtiges Vehikel für die OMR selbst um ihre Bedeutung in den Mainstream (und zu den Sponsoren) zu kommunizieren. Wo Serena Williams auftritt, da geschieht Bedeutendes, so die Botschaft.
Echt Bedeutendes geschieht in diesem Jahr dann, wenn Kritik laut wird. Die Bielefelderin Maja Göpel steht am Dienstag auf den Brettern, die die OMR bedeuten (also auf der 160m-Conference-Stage) und geht mit der Welt, der Politik, der Wirtschaft – also uns, in die Kritik. Nominell wissen wir es alle, wir steuern auf schwierige Zeiten zu.
Die Umwälzungen der nächsten Jahrzehnte werden alles wie Kinderkram aussehen lassen, was wir in der letzten Dekade hinter uns gebracht haben. Das wissen wir alles schon, manche mehr, manche weniger. Aber wenn Maja es ausspricht, dann merkt man, dass ihre Stimme verfängt. Das zeigt auch der Applaus im Anschluss.
Einen Tag später steht an der gleichen Stelle Luisa Neubauer und spricht über das selbe Thema, natürlich. Wir müssen handeln. Doch statt Aktion steht auf den Agenden vieler Konzerne das leere Versprechen. Sie fordert die Anwesenden, die Marketing-Szene, auf, da nicht mehr mitzumachen. Im Zweifelsfall aufzustehen und zu gehen, wenn Klimaschädliches mit sprichwörtlich grüner Farbe überzogen werden soll.
Sie prangert das Greenwashing an – von Unternehmen, die auf der OMR anwesend sind und auch von Hauptsponsor Audi. Uhh, man kann fast spüren, wie manche Zuschauer den Atem anhalten und instinktiv die Köpfe einziehen. Philipp Westermeyer sieht nicht glücklich aus. Im anschließenden Interview macht er keine gute Figur.
Aber natürlich wusste er Bescheid. Er muss Bescheid gewust haben. Die Folien hat Luisa Neubauer nicht mal gerade kurz vor knapp eingereicht. Und das heisst auch, dass es mit Audi geklärt war und dass auch die Deutsche Bank Bescheid wusste. Oder?
Wenn das so ist, dann macht es das wieder zu einem (mutigen) Marketing-Stunt. Ist das dann nicht schnon irgendwie Greenwashing? Die OMR hat ein Feigenblatt und sonnt sich in der positiven Aufmerksamkeit.
Überhaupt ist 2023 alles irgendwie grüner angehaucht. Es gibt eine Guided Tour zur Nachhaltigkeit des Festivals selbst, es gibt ganz viel veganes Essen und es gibt auf dem Gelände nicht einen Tropfen Kuhmilch. Hafermilch ist die einzige Option.
Das hatte im Vorfeld schon für Erregung gesorgt bei Menschen, die eine links-woke Verschwörung witterten und sich diskriminiert fühlten. Das passt gut ins Bild, hat aber mit der Realität nicht viel zu tun.
Die OMR ist großartig darin, ihren Sponsoren die wildesten Pakete zu verkaufen. 2019 durfte die Drogeriekette dm alle Männer-Klos der OMR mit Produkten ihrer neuen Männer-Linie "seinz" bestücken. Den Pitch hätte ich gerne gehört. "Wollt Ihr nicht die Klos bespielen?"
Das ist großartiges Marketing und ich bin mir sicher, dass dm mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein konnte. Bei der Hafermilch ist es ähnlich. Die OMR hat einfach die "Milchlizenz" an Oatly verkauft. Für eine unbekannte Summe wurde Oatly zum exklusiven Milch-Provider.
Nicht "Ideologie" ist schuld, es ist einfach Kapitalismus.
Kapitalimus besteht aus Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage ist da, nächstes Jahr wird die OMR noch einmal 100 Euro kostspieliger. Gemeinsam mit den teilweise absurden Preisen an den Food-Ständen (Burger ohne Fritten für 15,90€ anyone?) wird die Reise nach Hamburg 2024 also noch mal ordentlich teurer.
Damit das gut klappt, brauchen wir Besucher wahrgenommenen Wert.
Wenn Dein Produkt so viel FOMO auslöst, dass das Hater erzeugt, dann hast Du es auf ein neues Level geschafft.
Die Anwesenheit der Promis ist dafür weniger verantwortlich, die Musik-Acts sind da schon besser geeignet. Fettes Brot, Jan Delay, K.I.Z., badmomzjay – das sind große Namen der deutschen Musik und auch die kommunizieren in den Mainstream hinein.
Und dann ist da noch Macklemore. Der amerikanische Rapper passt genau in das Schema. "Eine Marketing-Konferenz, auf der Macklemore auftritt?" Fragen die Leute außerhalb der Bubble. Das zieht. Womit ich aber nicht gerechnet habe:
Macklemore ist die beste Lehre in Sachen Marketing des ganzen Festivals. Sorry Pip.
Ich weiß nicht, ob das gelernt oder angeboren ist. Ob das alles das choreografierte Werk einer Agentur ist oder ob es von ihm selbst kommt. Das ist auch egal. Der Mann arbeitet wie wir. Am Anfang ist die Hook, er wirft er seine Angel aus. Macklemore schmeichelt dem Publikum, spricht von seiner Liebe zu Hamburg. Und dann kommt die Story. Er erzählt von der Nacht, als er nicht schlafen konnte und mit einem Miet-Scooter durch das dunkle Hamburg gedüst ist.
Das mündet in das Storytelling eines seiner Lieder und verbindet diese zu einer packenden Mischung, mit der Macklemore meisterhaft spielt. Das Publikum ist Wachs in seinen Händen. Zwischen den Liedern weitere Storys, die als verbindendes Element dienen. Auf der Bühne dienen die Musiker gleichzeitig als Tänzer und Teil der Kulisse, das fühlt sich an wie ein Musical.
Bei dem Lied "Same love" über Akzeptanz von Homosexuellen laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich bin 43 Jahre alt, eher nicht am Wasser gebaut und hetero. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so etwas erlebt habe. Es muss lange her sein. Macklemore just hits different.
Danach könnte Macklemore den meisten Besuchern so gut wie alles verkaufen, da bin ich mir sicher.
Tut er nicht, aber er könnte. Ich glaube nicht, dass viele der Besucher diese Marketing-Seite von Macklemore wahrgenommen haben. Ich glaube auch nicht, dass die OMR-Booker das vorher gesehen haben. Wenn ich mich täusche: Chapeau! Das war ein großartiger Abschluss für ein tolles Event.
Im Vorfeld habe ich auf Linkedin geschrieben, dass ich an die OMR und das Team glaube. Das stimmt nachwievor und jetzt, auf der Rückfahrt und danach, noch ein bisschen mehr. Das Team wird Retrospektiven machen, weiter lernen und im nächsten Jahr noch stärker antreten. Meine Wette: Das Team erkennt, dass die inhaltliche Qualität nächstes Jahr gesteigert werden muss und macht das zum Motto für 2024.
Ich werde da sein.